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Von Susanna Niedermayr , Christian Scheib.

Die Größe des Bogens und die Tiefe des Gefühls

Underground, Upgrade und Himmelspforten

Die aktuellen Musikszenen in Litauen erwarten gut vorbereitet das zukünftige Europa

Alles entstand aus dem Enthusiasmus der Leute, erzählt der junge Komponist Artūras Bumšteinas. „Das ist für Menschen aus dem Westen schwierig zu verstehen, wie man ein ganzes Festival fast ohne Geld organisieren kann. Aber es war allen ein Bedürfnis, manche haben sogar ihr privates Geld dafür gegeben. Und das Zentrum für Zeitgenössische Kunst half auch mit, es war eine einzige große Zusammenarbeit.“


Die Musik- und Kulturschaffenden Litauens haben sich ihren Enthusiasmus offensichtlich bis heute bewahrt, und das, obwohl es in den letzten Jahren immer enger geworden ist. So gibt es mittlerweile etwa keine einzige Radiosendung mehr, in der experimentelle Musik vorgestellt wird, berichtet der Komponist Antanas Jasenka, der Mitte der neunziger Jahre auch Redakteur einer Radiosendung für neue Musik war, bis die Führung des staatlichen Radioprogramms LR3 entschied, dass die Musik, die Jasenka präsentierte, nicht genügend Hörer bringen würde, sprich: nicht profitabel genug sei. Entwicklungen wie etwa diese beobachtet man in Litauen mit erstaunlicher Gelassenheit, sie seien nicht zuletzt auch ein Beweis dafür, dass sich die Lage in Litauen normalisiert. Beeindruckend ist auch mit welcher Unbeirrtheit und Zuversicht die Musik- und Kulturschaffenden Litauens ihren Weg fortsetzen. „Mein Eindruck von der derzeitigen zeitgenössischen Musikszene Litauens ist ein sehr positiver. Es gibt viele spannende Events, auch an der Schnittstelle zwischen offizieller Avantgarde und Underground. Die gesamte Szene erscheint mir sehr lebendig. Und im Wesentlichen, glaube ich, ist die Situation in der litauischen Musikszene nicht anders als die in Westeuropa.“

An der Himmelstür – Gemäßigt optimistisch für das Neue in der Musik kämpfen

At Heaven’s Door (An der Himmelstür) heißt ein elektroakustisches Stück von Šarūnas Nakas und zu so viel positivem Denken, wie es Litauen zurzeit verströmen kann, scheint das perfekt zu passen: Böse Abgrenzung hat man hinter sich, neue Möglichkeiten vor sich: an der Himmelstür eben. Šarūnas Nakas gehört zu jener Generation, die den letzten zurückliegenden Aufbruch ab Mitte der achtziger Jahre geprägt hat, und obwohl er dem so ostentativ Positiven nicht widerspricht, zeichnet er dennoch ein etwas mehrdeutiges Bild des heutigen litauischen Selbstverständnisses:

„Ich glaube, dass wir eine einzigartige Möglichkeit hatten, in mehreren Systemen zu leben. Und das dauert immer noch an. Es ist eine sehr reiche Erfahrung und wir haben dabei zudem die Vernichtung tausender Illusionen miterlebt. Auch jetzt entstehen neue Illusionen und Utopien und die Menschen werden dabei zu einer Art polyglotten Wesen: Menschen, deren Schlüssel verschiedene Systeme knackt, die verschiedene Sprachen sprechen. Sie betrachten dann alles unaufgeregt und ruhig, ohne besondere romantische Träume über das Leben. Ich glaube, das äußerliche Leben und das innere Leben eines Künstlers unterscheiden sich sehr voneinander. Das sind zwei verschiedene, nicht synchron laufende Ebenen. Ich sehe zum Beispiel, dass sich meine musikalische Ausdrucksweise in den letzten 20 Jahren fast überhaupt nicht geändert hat. Auch wenn es paradox erscheint, aber in Hinsicht auf ein Streben nach Expression sind diese äußerlichen Veränderungen nicht so wesentlich. Außerdem handelt es sich hier um einen kurzen Zeitabschnitt, um etwa 15 Jahre, das ist sehr kurz, das zieht vorbei wie ein paar Wochen. Wenn die Menschen an etwas schreiben, dann arbeiten sie langsam. Sie können ihren Stil nicht in so einem Tempo verändern, wie das äußere Leben sich wandelt. Und das sollte auch nicht so sein, weil zu große Produktivität leicht in bloße Schreibwut kippt.“

Šarūnas Nakas hat sich in seinen Kompositionen tatsächlich Grundsätzlichem verschrieben: „Ja, es gibt einige grundlegende Ideen, die mich besonders interessieren: die Idee des 'Zeit-Flusses', des 'Feuers' und der 'Pyramide'. Das sind grundlegende Ausgangspunkte. Auf ihnen beruhen alle weiteren Konzepte. Das ist oft in meinen Stücken zu finden, ungeachtet dessen, ob es eine sehr aktive oder extrem ruhige Musik ist.“ „Chronon" heißt folgerichtig ein Instrumentalstück aus dem Jahr 1996, der dritte Satz heißt beispielsweise „Das Meer, der Himmel" und die Musik strömt mit dementsprechender Würde. Doch Šarūnas Nakas weiß zudem ganz pragmatisch Phasen des gesellschaftlichen Aufbruchs wie Mitte der achtziger Jahre mitzugestalten, aber auch bis heute zu schätzen: „Es ist wirklich schwer, die real wirkenden Prozesse zu sehen, die die wichtigsten Mechanismen beherrschen und die ganze Situation konfigurieren. Aber offensichtlich hat sich die postindustrielle Welt in Litauen noch nicht fermentiert, diese Welt entwickelt sich noch. Und viele Lebenssphären sind bis heute überhaupt noch nicht strukturiert und reglementiert. Unter solchen Bedingungen entstehen größere Möglichkeiten. Für die Kunst ist das sehr wichtig. Solche unklare und undefinierbare Perioden sind sehr fruchtbar, so paradox das auch sein mag.“

Mitte der achtziger Jahre entstand ein verrücktes Stück für Instrumente plus Elektroakustik, Meilenstein und Signatur einer Epoche, komponiert von Šarūnas Nakas: „Merz-Machine". Mit eklektischer Vielfalt der Mittel und rabiater Direktheit im Ausdruck bezieht sich die Musik nach hinten auf Schwitters, um nach vorn in die gerade anbrechende neue Zeit zu verweisen, um sich ausreichend und rechtzeitig zu wappnen. Vytautas Barkauskas Junior, Gintaras Sodeika, Rytis Mažulis und eben Šarūnas Nakas: Eine neue Generation formulierte damals einen künstlerischen Aufbruch: Gegen das System, aber auch gegen das Sentimentalisch-Nationale, für das Extreme, für das Individualistische, sei es asketisch oder verspielt. „In ästhetischer Hinsicht glaube ich, dass am und nach dem Ende des 20. Jahrhunderts das Bedürfnis der Musiker nicht mehr da ist, sich zu irgendwelchen Organisationen zusammenzufinden oder Manifeste zu schreiben, oder sich zu irgendwelchen ästhetisch-geistigen Verbindungen zusammenzuschließen. Es ist eher eine Zeit der Individualisierung. Wir sollten auch nicht vergessen, wie die Künstlerverbände sowjetischen Typs entstanden sind: Das war eine Form von Zensurbehörde. Heute ist das überhaupt nicht aktuell und notwendig und die Funktion solcher Organisationen in ästhetischer Hinsicht ist minimal.“

Vom Tango in Moskau und der Märchenfee in Vilnius

Die erste Ausgabe des Musikmagazins „Tango" erschien Ende der achtziger Jahre, kurz vor der Wende, erzählt Mitherausgeber Robertas Kundrotas. Viele Jahre hatte man sich gewissermaßen auf diesen Moment vorbereitet. „Ich habe mich mit Sammlern aus der gesamten Sowjetunion getroffen, mit Leuten etwa aus Lettland, Kaliningrad, Weißrussland, Russland und Estland. Musik und Informationen haben wir vor allem in Riga ausgetauscht. Riga war das Zentrum unserer illegalen Aktivitäten. Wir hier in Litauen waren also nicht alleine, und als wir schließlich Ende der achtziger Jahre beschlossen, ein Musikmagazin herauszugeben, hatten wir bereits eine Menge an Informationen – in Russisch, in Englisch, in Deutsch, sogar in Spanisch. Wir haben uns auf die Suche nach Übersetzern gemacht und den Inhalt für die erste Ausgabe von Tango zusammengestellt.“

Die erste Ausgabe von Tango wurde in einer stolzen Auflage von 5.000 Stück veröffentlicht. Die Reaktionen waren geradezu euphorisch, erzählt Robertas Kundrotas. Die jungen Leute hätten geglaubt, Tango sei ein Jugendmagazin und sich darüber gefreut, dass man in Litauen endlich Geschichten über die Sex Pistols und The Residents lesen konnte. Aber auch aus dem Westen kam viel positives Feedback. Tango wurde in deutschen und amerikanischen Magazinen besprochen, sogar BBC London bekundete Interesse. „Damals hat die ganze Welt nach Litauen geschaut. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben alle mit Spannung darauf gewartet, dass etwas Neues passiert, und Tango war eben etwas Neues. Im Laufe der Zeit haben wir uns dann immer mehr auf experimentelle Musik konzentriert, auf die Musik, die uns wirklich interessiert hat. Das hatte zur Folge, dass unsere Leserschaft immer kleiner und kleiner geworden ist. Heute erscheint Tango nur mehr in einer Auflage von 200 Stück.“

Und diese 200 Stück werden auch nicht mehr mit Hilfe der Druckerei, sondern mit Hilfe des Kopierers unter das Volk gebracht. Bereits kurz nach der Wende nämlich änderte man bei Los Centras die Stoßrichtung. Los Centras, ursprünglich Jugendzentrum und heute Werbeagentur und kommerzielle Radiostation, übernahm in den ersten Jahren die Schirmherrschaft von Tango. Mitte der neunziger Jahre wurde die Unterstützung schließlich eingestellt. Tango würde nicht genügend Profit bringen, hieß es. Robertas Kundrotas beschloss, auf eigene Kosten weiterzumachen. Auch heute noch ist sein Engagement ungebrochen. Als Beilage zur Ausgabe des Tango-Magazins 2002 erschien zum ersten Mal eine CD, der damaligen Schwerpunktsetzung entsprechend eine Zusammenstellung ausgewählter Musikbeispiele experimenteller litauischer Musik. Minimal Electronic von Darius Čiuta gibt es darauf etwa zu hören, der in Litauen auch als ein wichtiger Vertreter der Noise-Musikszene gilt; Raimundas Eimontas beeindruckt mit experimentellem Glockenspiel und Antanas Jasenka verleiht mit seinem verschrobenen Pop Song der Compilation das nötige Quäntchen Humor.

„In Moskau haben die Menschen dieselben Tango-Zeitschriften bekommen und so entstand ein enger Kontakt. Deswegen hat Tango für eine Weile eine sehr große Rolle gespielt.“ Antanas Jasenka erinnert sich da, auch er war in den neunziger Jahren geprägt von dieser Musikzeitschrift und vor allem vom sozialen Umfeld, das sich dadurch auftat. 2001 veröffentlichte er daraufhin beim russischen Label „Electroshock" sein Opus Magnum: Die fast einstündige Musik/Sprache/Geräusch-Montage mit Titelbezug auf die klassische theatralische Scheinlösung, den Gott aus dem Schnürboden, heißt „Deus Ex Machina" oder auch „Deusexmachine".

„Ich hab diesen totalen Lärm immer wiederholt, mich darin versenkt. Es war auch Merzbow-Lärm dabei, aber er hat mich eigentlich nicht besonders beeinflusst. Ich selbst bin ein Mensch mit dramatischer Natur. Wenn ich ein Bild male, konzentriere ich mich auf die Kontraste, starke Farbkontraste, wie in mancher Malerei aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch in der Sprache: Wenn ich ein Wort mit dem anderen zusammenfüge, dann ist für mich wieder der Kontrast interessant. Ich setze Kontraste und bekomme dadurch die Intensität, die ich in der Dramaturgie anstrebe. Besonders bei Deus Ex Machina ist das ganz offensichtlich: Es werden dort alle Mittel eingesetzt: elektronische, akustische, die menschliche Stimme – eine ganz natürliche und schöne Frauenstimme –, aber auch eine donnernde Maschine, und diese ganzen komplexen Kontraste werden vereint. Das alles ist charakteristisch für mich als ein Mensch mit dramatischer Natur.“ Lärm, Sprache, Musik und Kapitelüberschriften wie Quer drüber, Kreuzigung, Intensität, aber auch – obwohl es niemals still ist – Schweigen verdeutlichen das künstlerische Anliegen.

Auch Antanas Jasenka hatte für eine Weile seine Hände im Spiel des Selbstorganisierens und Aufbauens von Festivals und Strukturen. Genau genommen hatte er sogar eine besonders glückliche Hand dabei. „Ich bin als Student oft lange in einem Café gesessen, mit vielen Büchern und Heften und habe immer sehr intensiv an irgendetwas geschrieben. Ich habe meist gar nicht bemerkt, wann jemand rein oder raus ist. Und deswegen könnte man es als eine Art Wunder bezeichnen, was dann passiert ist: Da waren auch viele Geschäftsleute in diesem Café und die haben mich beobachtet, wie ich bei den Büchern sitze. Eines Tages kommt so ein Geschäftsmann zu mir rüber, legt seine Visitkarte auf den Tisch und sagt: 'Komm doch morgen vorbei, in mein Büro, ich möchte ein bisschen mit dir reden.' Und am nächsten Tage bin ich zu ihm und habe einen Bankscheck von ihm bekommen, einen Scheck über 2.000 US-Dollar, das war 1992 enorm viel Geld. Und aus diesem Geld haben wir drei Musik-Festivals veranstaltet.“

Zwischen Underground und Upground

Seit zehn Jahren arbeitet der Komponist Gintaras Sodeika mit dem renommierten litauischen Theaterregisseur Oskaras Koršunovas zusammen. Die Inspiration für seine Musik bezieht Sodeika nicht selten aus dem Underground, vor allem aus Jazz und HipHop und, wie er hervorhebt, aus der speziellen Mischung dieser beiden Stile, wie er sie in einigen New Yorker Clubs zu hören bekam. „Die Musik, die man in fremden Städten auf der Straße und in den Clubs hören kann, fasziniert mich. Aus ihr schöpfe ich meine Inspiration. So kann es etwa passieren, dass mich ein Beat, den ich vor fünf Jahren in einem Club in New York gehört habe, plötzlich dazu anregt, ein neues Klavierstück zu schreiben.“ Etwa passiert im Vorfeld der Komposition „Tone Ontology No. 2" aus dem Jahre 1998, erschienen auf einer Compilation des litauischen Musikinformationszentrums, ein ungeduldig nach vorne drängendes Musikstück für zwei Klaviere, das Gintaras Sodeika auch gerne als „Academic Techno" bezeichnet.

Gintaras Sodeika bezieht seine Inspirationen also aus der Club-Culture und steht damit exemplarisch für eine junge Generation von Komponisten, deren musikalisches Schaffen oft in einem Grenzbereich angesiedelt ist, der aus einer anderen Perspektive heraus betrachtet gerne dem Underground zugerechnet wird. Wo hier letztendlich die Grenze verläuft, das wird in einem Land wie Litauen, in dem sich noch keine tragfähigen Strukturen zur Förderung von Subkultur herausgebildet haben, schnell deutlich. Nur wer eine einschlägige akademische Ausbildung absolviert hat, hat auch Chancen, in den Genuss der Begünstigungen durch den Komponistenverband zu kommen, über den nach wie vor, wie man immer wieder hört, ein Großteil der staatlichen Fördergelder für zeitgenössische Musik fließt. So aufgeschlossen manche Komponisten in ihrer musikalischen Arbeit auch sein mögen, wenn es um das Aufgeben alter Privilegien geht und um das Adaptieren von überkommenen Gesetzen und Bestimmungen aus der Sowjet-Zeit, dann findet der Aufbruchsgeist manchmal schnell ein Ende. Gintaras Sodeika weiß, wovon er spricht, denn er ist unter anderem auch Vorsitzender des litauischen Komponistenverbandes. „Diese alten Bestimmungen funktionieren noch immer, viele unserer Mitglieder sagen, wir sollten daran festhalten. Eines Tages werden wir vielleicht offener sein, aber nicht in den nächsten fünf Jahren, denke ich. Litauen ist klein und es gibt viele Amateure, die wirklich schlechte Musik machen, vor allem im Bereich der Popmusik. Wenn nun aber plötzlich jeder Mitglied des Komponistenverbandes werden könnte, wo ziehen wir dann die Grenze? Unser Budget ist nicht so groß. Wir können uns nicht auch noch um die Pop- und Jazzmusiker kümmern, noch dazu, wo diese ohnehin Unterstützung von der Privatwirtschaft bekommen – wir zeitgenössischen Komponisten bekommen keine. Wir benötigen unser Budget für unsere Aktivitäten, das ist der Grund, warum wir nach wie vor eine weitgehend geschlossene Gesellschaft sind.“

Es mag sein, dass – wie Artūras Bumšteinas angemerkt hat – es Menschen aus dem Westen schwer fällt, sich vorzustellen, wie man fast ohne Geld Festivals organisiert. Menschen aus dem Westen fällt es aber auch schwer, ein anderes Relikt aus Zeiten sozialistischer Kultur-Usurpations-Strategien einzuordnen: Da stehen wie in einem eigenen Stadtviertel nette Reihenhäuser und mittendrin ein etwas größeres Gebäude, alles gebaut und geplant aus staatlicher sozialistischer Obsorge um die Künstler und Musiker des eigenen Landes. Die konnten dort – und können zum Teil noch heute – wohnen, arbeiten, proben, Büros benutzen, Konzerte veranstalten. Eine der prominentesten Komponistinnen des Landes wohnt dort auch heute noch, die Spätvierzigerin Onutė Narbutaitė. War man staatlich ausgebildeter Künstler und nicht auffällig dissident, dann war das materielle Los nicht das große Problem; die ideelle Perspektivelosigkeit, die Zurückgezogenheit des Ausdrucks jedoch schon. „Unsere Generation ist noch aufgewachsen in solch einem ganz komplizierten Zustand. Wir sind da vielleicht wirklich etwas anders als Menschen, die in einem freien Land aufgewachsen sind. Das hinterlässt Spuren. Manchmal sehen wir die Dinge etwas tragischer und ernster.“

Strategien dagegen gab es schon, doch eine gewisse Melancholie blieb bei einer Künstlerin erhalten, die gerade nicht mehr jung genug zum Radikalaufbruch war, als die Umstände es ermöglichten. Onutė Narbutaitė spricht aber ein Thema an, das manchmal subkutan, manchmal ostentativ seine Präsenz behauptet: den litauischen Stolz, das Eingeschworensein auf die eigene Geschichte. Das kann bei den heute Jungen zu der für westliche Besucher absurd erscheinenden Situation führen, dass das einzig unabhängige Label im Land – Dangus Productions – sich über die Bewunderung alter heidnischer Riten und Bräuche selbst definiert, knapp am Ultranationalistischen entlangschrammend. In der zeitgenössischen Musik führte das auch in Litauen immer wieder zu Versuchen, alte Ton-Skalen oder Rhythmen zu berücksichtigen. Für Onutė Narbutaitės Musik ist das alles kein Thema: Zitate oder Bräuche sind das ihre nicht, eine grundlegende Melancholie und Atmosphäre aber schon. Und sie hat auch eine einfache und deutliche Erklärung: „Vergangenheit und Geschichte waren für viele Menschen in Litauen über Jahrzehnte eine Quelle der Kraft zur Identifikation, letztendlich zum Bleiben und Leben. Dass sich das auch in meinem Vilnius-Oratorium abbildet, kam wie von selbst. Ich bin in der Altstadt von Vilnius aufgewachsen, bin der Stadt sehr verbunden. Ich denke sogar, dass in meiner Musik auch ein Einfluss der Architektur von Vilnius zu spüren ist, in ihr spiegelt sich dieses Nicht-Geometrische, das Malerische.“

„Centones meae urbi" nannte Onutė Narbutaitė dieses Werk über ihre Heimatstadt Vilnius, auf Deutsch etwa ‚Bruchstücke meiner Stadt’: Sanft schimmernde Bruchstücke zumeist, mit großem Bogen und weitem Herz kompositionsgeschichtlich über die Jahrhunderte gespannt. „Es geht um mehr als um die Musik: Es war wie eine Wanderung in die Geschichte der Stadt. Ich habe die alten Friedhöfe aufgesucht und die Inschriften abgeschrieben, um sie als Text in meinem Werk zu verwenden, auch Fragmente und Texte aus dem 19. Jahrhundert habe ich gesammelt. Und die Musik spiegelt natürlich auch die verschiedenen Epochen wider, aber nicht als Kopie oder Zitat, nein, das ist alles meine Musik und die hat eben eine bestimmte, Assoziationen erzeugende Atmosphäre.“

Angeschlossen an den Komponistenverband ist auch das litauische Musikinformationszentrum, das sich derzeit noch vorwiegend um die Betreuung jener Musiker kümmert, die Mitglieder des Komponistenverbandes sind. Ein Großteil ihrer Arbeit, so Daiva Parulskienė, besteht in der Betreuung und im Ausbau eines dementsprechend fokussierten Manuskript- und Sound-Archivs. „Unsere beschränkten Ressourcen erlauben es uns kaum, unseren Wirkungsbereich auf andere musikalische Genres auszudehnen, obwohl es wichtig wäre und uns auch persönlich sehr interessieren würde. Unsere Verbindungen zu Gruppen und Initiativen, die nicht hier im Haus des Komponistenverbandes angesiedelt sind, sind zurzeit noch recht schwach. Natürlich sollten wir versuchen, ein Zentrum für alle zu werden. Zuerst sollten wir ein Netzwerk aufbauen und dann vielleicht ausgehend davon Informationen sammeln, eventuell Musikbeispiele veröffentlichen. Alles ist möglich, insofern eben die grundlegenden Ressourcen vorhanden sind.“

Auch Linas Paulauskis, der gemeinsam mit Daiva Parulskienė das litauische Musikinformationszentrum führt, schöpft seine musikalischen Inspirationen nicht zuletzt aus der Club-Culture, wie etwa auch in dem Stück „Life Giving Water Machine" deutlich wird. Ein röhrendes Tenor-Saxophon verliert sich in „Life Giving Water Machine Part II" in einem geradezu ekstatischen Drum and Bass Beat. Erschienen ist Life Giving Water Machine auf einer CD als Beilage zum Programmheft des Jauna Muzika Festivals 2002, das den Untertitel „e-muzika" trug und damit, wie Linas Paulauskis ausführt, bereits ein erster Schritt in Richtung Öffnung sei. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen 2002 Arbeiten im Bereich der elektroakustischen und elektronischen Musik. „Zumindest jetzt, am Anfang noch, ist Jauna Muzika ein Festival für Komponisten, die einen akademischen Background haben. Wir wollen ihnen ein Forum bieten, in dem sie ihre elektroakustischen und elektronischen Arbeiten präsentieren können. Aber der Bereich, den wir als elektronische Musik definieren, ist mittlerweile so vielschichtig, die Grenzen hin zu anderen Musikgenres sind immer schwerer auszumachen, sodass es in Zukunft wohl keine Rolle mehr spielen darf, ob ein Musiker nun eine akademische Ausbildung hat oder eben nicht. Es sollen auch Musiker eingeladen werden, die aus der Improvisations-Szene kommen oder etwa DJs, die experimentieren.“ (1)

Die „Virpesys"-Crew, das sind namentlich Gediminas Usackas und Denis Shafoval, haben vor etwa drei Jahren beschlossen, die Dinge selber in die Hand zu nehmen, und ihre eigene Plattform für experimentelle Musik gegründet – aus purer Liebe zur Musik und unter Einsatz der eigenen finanziellen Mittel. Im Sommer 2002 organisierten sie unter dem Titel „Baltas Triukšmas" in der Nähe von Vilnius zum ersten Mal ein Festival für experimentelle (elektronische) Musik. Vor etwa eineinhalb Jahren haben Usackas und Shafoval einen Raum angemietet, in dem sie nun zweimal im Monat Partys und Konzerte veranstalten. Wenn Gediminas Usackas dort die Belüftungsanlage anwirft, meint man bereits mitten in einem Noise-Konzert zu stehen. Die Veranstaltungsräumlichkeiten von Virpesys befinden sich im wahrsten Sinne des Wortes underground, nämlich in einem ehemaligen Luftschutzkeller im Zentrum von Vilnius. „Unter den Sowjets konnte man hier nicht rein. Der Keller sollte im Fall eines Atomkrieges den Menschen Schutz bieten. Vor etwa fünfzehn Jahren war dann hier ein Labor, in dem diverse Instrumente zur Messung der Radioaktivität getestet wurden. Anfänglich hatten wir mit einer Menge Misstrauen seitens der Nachbarn zu kämpfen, denn kurz nach der Wende – also in einer Zeit, in der unklar war, wem der Keller gehörte – war hier ein begehrter Treffpunkt von Drogensüchtigen. Manchmal fanden auch illegale Konzerte statt. Wir haben nun den Keller legal von der Stadtverwaltung gemietet.“

Trotz seines durchweg authentischen und charmanten Ambientes wird es kein Leichtes sein, den ehemaligen Luftschutzkeller in einen konzerttauglichen Club umzuwandeln. Eine Bühne kann nicht eingebaut werden, denn dafür ist die Decke zu niedrig. Für jede Veranstaltung muss extra ein Licht- und ein Soundsystem ausgeborgt und installiert werden. Unmittelbar wird bewusst, dass das Leben außerhalb der geschützten Werkstätte Komponistenverband und Musikinformationszentrum ungleich härter ist. Guter Sound sei ihnen sehr wichtig, erklärt Gediminas Usackas. „Wir versuchen immer die bestmögliche Qualität zu bieten. Aber der Raum hallt sehr und das ist speziell bei Live-Konzerten ein Problem. Wir überlegen uns gerade, womit wir die Wände auskleiden können, um den Hall zu verringern.“ Auf die Frage, ob denn nicht auch die laute Belüftungsanlage ein wenig störend sei, antwortet Usackas: „Die würde einfach übertönt.“ Man ist froh, überhaupt einen Platz für Veranstaltungen gefunden zu haben. (2)

Manche kämpfen mit der unfreiwilligen Raumbeschallung durch die Belüftung, andere komponieren eigens eine allerdings subtilere Raumbeschallung für eine Galerie. Als eine Art künstlerisches Sound Design für eine Kunstausstellung in Vilnius entwarf Artūras Bumšteinas einen von Telefontönen und feinen Sounds geprägten Klangschleier. Bumšteinas ist ein Klangkünstler und Komponist, dessen Biografie und Interessenlage sein Oszillieren zwischen den unterschiedlichen Szenen verdeutlicht. Doch selbst diese Beschreibung erschiene ihm selbst vermutlich schon zu dramatisch. „Es gibt keine strikte Trennung zwischen experimenteller und akademischer Musik. Früher war es noch eher vertikal organisiert, aber heute ist alles ziemlich horizontal. Im Zentrum für Zeitgenössische Kunst beispielsweise findet man Video-Kunst, Post-Techno und Streichquartette. Umgekehrt war das Jauna Muzika Festival schon vor Jahren der zeitgenössischen Kunstszene geöffnet. Es gibt zwischen ‚Underground’ und ‚Upground’ keine wirklichen Grenzen mehr.“

Underground und Upground: Artūras Bumšteinas ist akademisch ausgebildeter Komponist, schreibt für Kammerensemble ebenso, wie er für Audio Art Festivals produziert. Er ist beim Virpesys Festival aufgetreten und damit in kulturpolitischer Hinsicht der lebendige Beweis dafür, dass Virpesys sich nicht vor akademischer oder konzeptioneller Unterwanderung fürchtet, im Gegenteil. Eines von Artūras Bumšteinas aktuellen Projekten heißt „Ousting", auf Deutsch „Verdrängung", ein durchaus international angelegtes Work in Progress: „Ich mag die Vorstellung, dass Klänge aus Tokio oder aus Istanbul nach Vilnius kommen, oder auch aus New York, woher auch immer. In meiner Komposition konzentriere ich all diese eingelangenden Klänge, in Ousting kracht New York auf Istanbul, der Straßenlärm aus Tokio verdrängt wiederum New York und wird selbst von was ganz anderem verdrängt. Ich bekomme also von Fremden Klänge geschickt und verwende sie wie Instrumente, jemand in Chicago wird sozusagen zu meinem Instrument.“

Zugleich offen und zentriert

Der Komponist Antanas Kučinskas war im Jahr 2002 sowohl beim Virpesys als auch beim Jauna Muzika Festival vertreten. „Wenn wir uns verschließen, dann beginnen wir nach einer gewissen Zeit uns selbst zu reproduzieren, und wenn wir uns nur mehr selbst reproduzieren, dann versperren wir uns damit auch gegenüber den Entwicklungen, die rund um uns herum stattfinden. Aber gerade heutzutage muss man offen sein; sich zu verschließen, nicht nur im Bereich der Kultur, sondern auch im Bereich der Politik, ist nicht gut – ist geradezu gefährlich.“ Sich nicht zu verschließen, sondern offen sein für neue Einflüsse und Entwicklungen und dabei trotzdem immer ganz bei sich selbst zu bleiben, so lautet die Arbeits- und Lebensphilosophie von Antanas Kučinskas. „Wenn ich neue Musik schreiben möchte, dann muss ich zuerst wissen, wer ich bin. Denn wer sich seiner selbst nicht bewusst ist, der beginnt schnell zu kopieren. Ich glaube, das Gebot des 21. Jahrhunderts ist es, sich auf sich selbst zu besinnen, sowohl als Individuum, als auch als Kollektiv. Wir müssen uns unserer Position bewusst werden. Was wollen wir damit ausdrücken, wenn wir sagen, dass wir im Westen leben? Wie definieren wir uns selber als Person? Wie definieren wir Europa? Das sind Fragen, die sich – glaube ich – jeder stellen muss, auch Komponisten. Ich muss verstehen, warum ich hier bin, in ausgerechnet dieser Zeit, und für wen.“

In seinem neuesten Projekt bringt Antanas Kučinskas auf eine im ersten Moment vielleicht ironisch wirkende Art und Weise das Dilemma, in dem sich viele Musikschaffende heutzutage befinden, auf den Punkt. „Loop Catalogue" heißt eine Serie von Stücken, an der Kučinskas gerade arbeitet. Ausgangsmaterial bildet jeweils ein bereits vorhandenes Musikstück, zum Beispiel von Schubert oder von dem wegweisenden Komponisten Bronius Kutavičius. Kutavičius gilt als der Begründer eines neuen Nationalstiles. Er war in Litauen einer der ersten, der sich in den siebziger Jahren dem Minimalismus zuwandte, jedoch nicht in Anlehnung an Komponistenkollegen aus dem Westen wie etwa Steve Reich, sondern basierend auf vorgeschichtlichen litauischen Musikelementen. „Jatvingian Loop" von Antanas Kučinskas – das „Oratorium from the Jatvingian Stone" von Bronius Kutavičius auseinander genommen und neu zusammengesetzt, ist ebenfalls auf der CD als Beilage zum Programmheft des Jauna Muzika Festivals 2002 erschienen. Antanas Kučinskas frisst sich wie ein Parasit durch die Musikgeschichte und hinterlässt dabei eine brachiale Soundspur. „Ich wollte damit auch unsere gegenwärtige Situation reflektieren, oft übernehmen wir schnell die Ideen der anderen, ohne uns vorher mit ihnen auseinander gesetzt zu haben. Unser Leben baut immer mehr auf Konsum auf. Ohne lange darüber nachzudenken konsumieren wir – das Fernsehen, die Produkte aus dem Supermarkt, Werbung – alles gründet sich auf den Konsum, auch die Musikproduktion und ich hoffe, dass in den Stücken, die ich für das Projekt Loop Catalogue geschrieben habe, auch meine Sorge zum Ausdruck kommt: denn immer nur zu konsumieren, selber jedoch nicht an einer Entwicklung zu arbeiten, heißt der Zukunft den Rücken zu kehren.“

Je länger man dem rund zwölfminütigen Stück Jatvingian Loop von Antanas Kučinskas zuhört, umso mehr relativiert sich das Gefühl von rasanter, stetig nach vorne drängender Geschwindigkeit. Eine der Musik inhärente Kraft scheint die einzelnen Soundpartikelchen von innen heraus auseinander zu treiben und vermittelt dadurch paradoxerweise letztendlich den Eindruck von Stillstand. Antanas Kučinskas schafft es in seiner Musik tatsächlich, sich neuen Einflüssen gegenüber zu öffnen und dabei trotzdem selbstzentriert zu bleiben.

Saxophon und Schlagzeug – Wo Vilnius am europäischsten ist

Nie hat Musik aus Vilnius so sehr europäische Standards definiert wie 1976: Das damals seit einigen Jahren bestehende Ganelin Trio spielte beim Warschauer Jazzfestival und nachher sah die Landkarte des europäischen freien Improvisierens anders aus als zuvor. Für Vilnius war das von entscheidender Bedeutung: Alle drei Musiker des Ganelin Trios waren Russen, keine Litauer, aber sie hatten Vilnius wegen seines toleranten Klimas zu ihrem Lebensmittelpunkt gewählt, und ausgehend vom Saxophonisten Vyacheslav Ganelin begann sich eine litauische Jazzschule zu entwickeln, mit heute so prominenten Vertretern wie dem Saxophonisten Petras Vyšniauskas. „Litauen könnte man als Land der Saxophonisten bezeichnen“, sagt die Jazzkritikerin, Veranstalterin und Leiterin einer Jazzsendung im litauischen Radio, Jūratė Kučinskaitė: „Die Saxophonschule hier ist wirklich gut. Und ein wirklich einzigartiger Musiker, der allerdings nur sporadisch in Litauen lebt, ist Liudas Mockūnas: einzigartig, weil er mit Mikrotönen und Obertönen arbeitet und diese Techniken alle beherrscht. Das ist vor allem im Jazz ziemlich selten. Mikrotöne sind eher charakteristisch für orientalische Länder und wir sind stolz, dass Mockūnas sich derart ausdrücken kann. Der bedeutendste und international bekannteste Musiker ist Dainius Pulauskas mit seinem Sextett. Aber meiner Ansicht nach ist das kein Projekt, das experimentell und radikal ist. Die radikalsten Arbeiten sind von Juozas Milašius, einem Gitarristen. Seine Musik ist, wie er selbst sagt, für das Zuhören beim Autofahren, so romantisch und leicht. Aber mit solchen Bemerkungen spielt sich Milašius natürlich mit seiner künstlerischen Identität.“ Musik von Juozas Milašius und seinen Bands kann klingen wie Jazzrock oder wie Noise-Musik, aber auch wie für das Autoradio eines wenig vertrauenswürdigen Cabrios in einem Melodram mit Musik von Morricone. Das Finale seiner aktuellen Solo-CD „j.m.eilė" scheppert jammernd und sonnenuntergangstrunken vor sich hin, die E-Gitarre als Soundsymbol ihrer selbst krank gespielt.

So unternehmungsfreudig Musiker und Organisatoren in Litauen auch sind, gerade deswegen stoßen sie ziemlich bald an die Grenzen ihres kleinen Landes. Jūratė Kučinskaitė stellt das Problem in eine historische Perspektive, um schlussendlich – nicht zuletzt aus der Perspektive der Veranstalterin, die sie ja auch ist – bei nicht unwitzigen Problemen der Gegenwart zu landen: „Zu Sowjetzeiten haben die Musiker in der ganzen Sowjetunion reisen und spielen können, das war ein großer Kulturbereich 'Eur-Asien', ein riesiges Territorium. Als Litauen sich selbstständig gemacht hat, wurden Litauer vorerst bewusst nicht eingeladen, die Grenze zum Osten wurde gesperrt. Mittlerweile ist es für uns gleich teuer, Richtung Osten zu Festivals zu reisen oder Musiker aus östlicheren Ländern zu Festivals nach Litauen einzuladen, wie nach oder aus dem Westen. Früher wurden wir aus dem Osten versorgt, nun aus dem Westen. Aber die Litauer fahren noch nicht oft nach Westen. Ich denke, die Bresche Richtung Westen ist noch nicht geschlagen worden.“ Einer der diesbezüglichen Hoffnungsträger avancierten, litauischen Jazz ist der energetische Saxophonist Jan Maksymowicz, auch einer der Favoriten der höchst aktiven Jūratė Kučinskaitė.

„Als das große Imperium 1990 zusammengebrochen und Litauen frei geworden ist, sind viel mehr Möglichkeiten entstanden, vor allem viele Jazzclubs und Festivals. Das bedeutet aber nicht, dass es die Entwicklung der Musik im selben Ausmaß gefördert hätte. Ich würde sogar behaupten, dass es eine Art Bremse war, ein Hindernis, weil der Markt unglaublich klein geworden war. Es entsteht folgendes Problem: Die Arbeit wird für die Musiker unbewältigbar: Es ist unmöglich, im Laufe eines Jahres so viele Programme zu entwickeln, wie das Publikum auf den drei oder vier aufeinander folgenden Jazzfestivals im Land von den Musikern erwartet. Nirgends in der Welt funktioniert das so: Der Markt muss viel größer werden, als er ist.“

Genauso wie Jūratė Kučinskaitė setzt auch Robertas Kundrotas all seine Hoffnung in den baldigen Beitritt Litauens zur Europäischen Union. „Ich bin wirklich sehr froh darüber, dass Litauen schon bald der Europäischen Union beitreten wird. Dann werden wir einfach eines von vielen Ländern Europas sein. Und wir Künstler von Litauen werden nicht mehr ständig beweisen müssen, dass wir mit den Künstlern im Westen Schritt halten können. Ich hoffe, dass die Situation schon bald besser sein wird.“ Hoffnung und positives Denken sind essenziell, aber letztendlich sind Enthusiasmus und persönliche Einsatzbereitschaft alleine nicht genug, appelliert Antanas Kučinskas und zeichnet ein Szenario, dass nicht nur den Musik- und Kulturschaffenden im Osten Europas zu denken geben sollte. „Die Leute haben Ideen, viele Ideen, sie könnten jede Menge interessanter Arbeit leisten – Arbeit, die nicht nur für Litauen sondern auch für den Westen ein Gewinn wäre, aber es hängt eben alles vom Geld ab. Wer über viele Jahre hinweg nicht genügend Geld hat, um professionell arbeiten zu können, wer sich etwa nie eine Aufnahme in einem gut ausgerüsteten Tonstudio leisten kann oder Musiker, die ein frisch komponiertes Stück zur Aufführung bringen, dessen Professionalität wird nach einer gewissen Zeit abnehmen. Und das ist schrecklich! In etwa zehn, fünfzehn Jahren wird es uns nämlich wirtschaftlich besser gehen, daran glaube ich, und dann wird unsere Regierung sagen: Nun haben wir genug Geld, um euch zu unterstützen! Nur werden wir bis dahin vielleicht keine Ideen mehr haben.“

September 2002



(1) Die Organisatoren des Jauna Muzika Festivals lösten diesen Vorsatz mit ihrem Festival 2003 ein. Zu Gast waren u. a. auch Pita Rehberg und Pure von mego.

(2) Virpesys kann nicht zuletzt auch als ein Beispiel dafür gesehen werden, wie schnell sich die elektronische Musikszene in den Ländern des ehemaligen Ostblocks derzeit entwickelt. Der zum Veranstaltungsraum umgebaute Luftschutzkeller existiert nicht mehr. Sowohl Gediminas Ušackas als auch Denis Shafoval haben Virpesys verlassen. Laut Artūras Bumšteinas vermietet die neue Crew von Virpesys nun in erster Linie Probekeller für lokale Bands. Weiters haben sie in der Zwischenzeit zwei CDs veröffentlicht, darunter auch Bumšteinas’ Solo-Album „floating points". Als eine neue Plattform für experimentelle elektronische Musik macht übrigens seit kurzem das mp3 Label Surfaces* (surfaces.tinkle.lt) von sich reden, u. a. mit Musik von Gintas K., die zwischen hochfrequenten Sound-Ziselierungen und Noise oszilliert.


Dieser Text entstand 2002 im Rahmen der Ö1 Sendereihe Zeit-Ton als ein Beitrag zur Ö1 Serie „nebenan. Erkundungen in Österreichs Nachbarschaft“ und findet sich in der Buch+2CD Box „Europäische Meridiane. Neue Musik Territorien. Reportagen aus Ländern im Umbruch“, erschienen im PFAU-Verlag als eine gemeinsame Produktion von ORF Radio Österreich 1, line_in:line_out und dem musikprotokoll im steirischen herbst.


Artikel erschienen in: REPORT. Magazin für Kunst und Zivilgesellschaft in
Zentral- und Osteuropa,Jänner 2006
> Link: REPORT online > Link: Pfau Verlag- > Link: line_in:line_out- > Link: Musikinformationszentrum Litauen- > Link: Dangus Productions- > Link: electroshock- > Link: milasus.com-